9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht vom Himmel gefallen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2024. In der FAZ betrachtet Ahmad Mansour mit Sorge, wie  antijüdische Narrative wieder salonfähig werden - radikale Islamisten wissen das für sich zu nutzen, warnt er. In der FAS ruft Thomas Meyer indes dazu auf, wieder zu einer produktiven Gesprächskultur zurückzufinden. Leander Scholz sieht den Erfolg der Identitätspolitik in der NZZ als Folge des Scheiterns eines westlichen Universalismus. Zeit Online fragt, warum man der Ukraine erst jetzt erlaubt, westliche Waffen auf russischem Gebiet zu benutzen. Die SZ hält ein Plädoyer für Europa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

In der FAZ betrachtet Ahmad Mansour mit Sorge, wie antisemitische Narrative in linken Milieus um sich greifen. Die pro-palästinensischen Studierendenproteste mit ihrem antisemitischen Unterton "sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen wie ein Meteoritenschwarm. Es gab eine erhebliche Phase des Vorglühens, ehe es zur aktuellen Eskalation kam." Radikale Islamisten wissen israelfeindliche Entwicklungen im Westen schon seit Jahren für sich zu nützen - und beim Postkolonialismus fallen ihre Bemühungen auf fruchtbaren Boden, warnt Mansour: "Deutsche Politik betont die unverbrüchliche Unterstützung Israels. Viel wird investiert in Gedenkstätten und Bildungsprogramme. Umso entsetzter müssen wir angesichts der jüngsten Entwicklungen fragen, wie es dazu kommen konnte, dass Tausende junge Leute für Gaza auf die Straße gehen, während Kundgebungen für Israel erheblich kleiner bleiben. Das ist nach meiner Beobachtung Folge einer politischen und gesellschaftlichen Schieflage. Nicht nur Unis, auch Schulen und Museen haben die postkolonialen Schwarz-Weiß-Muster aufgegriffen und geben sie an Kinder und Jugendliche weiter. Viele Projekte gegen Rassismus werden mit erheblichen staatlichen Mitteln unterstützt. Bei näherem Hinsehen finden sich dort jedoch oft stereotype antijüdische Narrative, im Gewand der Dekolonisierung und der 'Israelkritik'."

Der Philosoph Thomas Meyer ruft indes in der FAS dazu auf, durchzuatmen und in der allgemeinen Empörung wieder zu einer produktiven Gesprächskultur zurückzufinden. Gerade angesichts der neuen Debatte um die TU-Präsidentin Geraldine Rauch und den TU-Antisemitismusbeauftragen Uffa Jensen (unser Resümee), muss Raum für Diskussion geschaffen werden. Meyer gibt zu, "Wirklichkeit ändert sich nicht, indem man Konsens beschwört. Aber angesichts des sich täglich verstärkenden Antisemitismus und Rassismus in Deutschland, bei deren Befeuerung sich rechte Israel-Freunde und linke Israel-Feinde längst die Hände reichen, ist die Frage, mit wem man dagegen kämpfen will. Doch daran denkt gerade niemand. Es lassen sich Wagenburgmentalitäten auf beiden Seiten feststellen, die nicht gut, schon gar nicht klug sind. Ginge es nicht auch so: 'Wir müssen reden, Sie stehen in der Öffentlichkeit, da ist jedes Wort explosiv!' Oder gerne auch: 'Was ihr erzählt, ist Blödsinn!' Es muss ein Raum geschaffen werden, in dem Jensen und der Zentralrat gleichermaßen sitzen und sich austauschen können."

Mark Schieritz findet es auf Zeit Online völlig übertrieben, den Rücktritt von TU-Präsidentin Geraldine Rauch zu fordern, weil diese antisemitische Tweets auf Twitter geliked hat. Rauch entschuldigte sich und gab an, die Posts nicht genau angeschaut zu haben - dieser unbedachte Umgang mit Social Media zeige vor allem Naivität, meint Schieritz, aber man müsse "sich schon fragen, ob man in einem Land leben will, in dem Social-Media-Profile und Spotify-Playlists durchwühlt werden, um unliebsame Personen an den Pranger zu stellen", findet er: "Der Antisemitismusvorwurf ist in Deutschland - zurecht - ein schwerwiegender Vorwurf. Er kann Karrieren beenden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass er gut begründet wird. Und man kann schon fragen, ob mit dem Liken fragwürdiger Beiträge diese Voraussetzungen erfüllt sind. Es gibt zum Beispiel Leute, die die Funktion zum Zweck der Sortierung verwenden (durch das Liken lassen sich einzelne Beiträge in der Masse der gesendeten Tweets identifizieren). Wie auch immer: Ein Herz auf X signalisiert deshalb nicht unbedingt Zustimmung und ist auch nicht immer eine Meinungsäußerung, es garantiert noch nicht einmal, dass man den entsprechenden Beitrag gelesen hat."

In der SZ denkt die Autorin Carolin Emcke mit Hannah Arendt darüber nach, wie man mit Diffamierungen und Diskriminierung umgehen kann und kommt dabei auf die Sylter Gröler zu sprechen. Es stimmt, dass die "ungläubige Empörung" in der Öffentlichkeit größtenteils von "naiver Ahnungslosigkeit" zeugt, meint Emcke, denn viele Menschen erleben tagtäglich noch viel schlimmere Diskriminierung und Hass. Trotzdem ist Vorsicht geboten: "Diese Art des nüchternen Realismus, der Menschenfeindlichkeit als allgegenwärtige Normalität gleichsam erwartet, birgt auch eine Gefahr. Gewiss, es ist empirisch richtig, antisemitische, rassistische, queerfeindliche Stigmatisierungen und Gewalt drohen permanent. Sie gehören faktisch zur Realität von so vielen. Aber sie einfach zu erwarten, wäre normativ falsch. Ich kann und will nicht damit rechnen, angefeindet zu werden."
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Ideen

Identitätspolitik ist kein neues Phänomen, stellt der Schriftsteller und Philosoph Leander Scholz in der NZZ fest, im Lauf der Geschichte habe sie "sowohl zur Emanzipation beigetragen als auch zum Hass auf andere. Denn jede Identitätspolitik geht mit starken Exklusionen einher." Man kann, so Scholz, dieses Zurückziehen auf die eigene Identität, das sich im "gesamten politischen Spektrum finden lässt, nur vor dem Hintergrund der Erosion des Universalismus begreifen. Nach dem Ende der Blockkonfrontation gab es die Erwartung, der Universalismus westlicher Prägung würde sich weltweit ausbreiten. Das Gegenteil war der Fall. Mit dem Anspruch, die einzige verbliebene Deutung der Geschichte mit globaler Geltung zu vertreten, ging auch sein Niedergang einher. Längst hat eine konkurrierende Deutung der Weltgeschichte ihren Platz auf der intellektuellen Bühne eingenommen, die vom Aufstand des globalen Südens gegen den globalen Norden handelt und aus diesem Konflikt ihre Wertvorstellungen gewinnt. Für viele Vertreter des Postkolonialismus ist der Universalismus nur eine identitätspolitische Position des Westens, die dazu dient, die Vorherrschaft der Weißen unter postkolonialen Bedingungen fortzuschreiben. Eine integrative Kraft kommt ihm kaum mehr zu, weder national noch international."
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Europa

Die Ukraine darf jetzt auch auf russischem Gebiet amerikanische und westliche Waffen einsetzen. Nachdem Joe Biden die Erlaubnis erteilte, zog die Bundesregierung nach - endlich, ruft Jörg Lau auf Zeit Online. Warum musste die Ukraine monatelang vor der Regierung zu Kreuze kriechen bis diese Entscheidung getroffen wurde, fragt Lau und fordert: "Der Westen muss aufhören, sich von Russland treiben zu lassen. Es konnte zuletzt der Eindruck entstehen, dass die USA und Deutschland, die beiden wichtigsten Unterstützer, einen ukrainischen Erfolg fast noch mehr fürchten als einen russischen Sieg - wegen Putins Nukleardrohungen. Diese Drohungen sind skandalös. Sie sind ernst zu nehmen. Es muss ihnen vereint und mit Festigkeit entgegengetreten werden. Aber die Angst vor der Eskalation zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen, wirkt paradoxerweise ebenfalls eskalatorisch, weil der Gegner sich dann allzu sicher fühlen kann."

In der SZ outet sich Kurt Kister als "Begeisterungseuropäer". Er rät dazu, nicht völlig dem Fatalismus anheim zu fallen und sich in Erinnerung zu rufen, welche Errungenschaften Europa zu verzeichnen hat - vor allem im Vergleich mit düstereren Zeiten: "'Europa' war und ist mit dem Begriff Freiheit verbunden. Diese Hoffnung blieb trotz aller Rückschläge erhalten, die europäische Freiheit ist attraktiv bis heute. Der Wunsch nach Freiheit, danach ein Teil dieses Europas zu sein, setzte den Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland ein Ende. Derselbe Wunsch trug auch 1989/91 die Revolutionen vom Baltikum bis ans Schwarze Meer. Und die vielen, die sich aus dem Süden und aus dem Osten auf den Weg nach Europa machten und machen, suchen eben jene Freiheit, zu der Sicherheit gehört. Europa zieht immer noch Menschen an - nicht in erster Linie, weil sie dort finanzielle Unterstützung suchen, sondern weil sie frei leben wollen, und sicher auch besser als dort, wo sie herkommen. Wäre Europa 'gescheitert', wie das alte und neue Nationalisten behaupten, dann würden nicht immer noch Staaten dem organisierten Europa beitreten wollen, und es würde keine Migrationsbewegung dorthin geben."
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Politik

In der FAZ begrüßt Majid Sattar das historische Urteil gegen Donald Trump (unser Resümee). Dieses könnte die letzte Chance für Joe Biden sein, die Wahl doch noch zu gewinnen: "Trump lebte lange von seinem Sieger-Image. Das entsprach schon lange nicht mehr der Wirklichkeit: Seit 2018 hat er in Wahlen fast nur noch verloren. Und nun verliert er auch vor Gericht. Trumps Gesicht war rot bei der Urteilsverkündung, sein Blick versteinert. Als wüsste er, dass er am Donnerstag nicht nur einen Prozess verloren hat. Die Szene erinnerte an das Wahljahr 2020, als Trump begriff, dass das Coronavirus ihn den Wahlsieg kosten würde."
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